Zwischen Folkwang und Kirmes – im Gespräch über Kultur und Zusammenleben in Essen

Bild: NRWSPD

Über 100 Jahre ist es her, dass in Essen das Folkwang-Museum errichtet wurde. 2010 wurde die Stadt zur Kulturhauptstadt Europas ernannt. Und im Herzen des Ruhrgebiets ist Essen ohnehin eine Stadt, in der viele verschiedene Kulturen zusammenkommen. Genügend Gründe um im Rahmen der „NRWSPD vor Ort“-Reihe in Essen über Kultur und Zusammenleben zu sprechen. Besonders weil bei diesem Thema zwei Sozialdemokraten in Essen in der ersten Reihe stehen.

Museen, Philharmonie und Theater – zu viel Protz und zu viel Fach-Jargon?

Muchtar Al Ghusain ist Dezernent für Jugend, Bildung und Kultur im Essener Rathaus. In seinen Zuständigkeitsbereich fallen somit die Schulen, aber auch die Museen, Theater und anderen Kulturinstitutionen der Stadt. Für ihn steht eins fest: Kultur sollte eine größere Rolle in der Bildung spielen. Al Ghusain erklärt dazu: „Es gibt Kinder, die kann ich über Kunst und Kultur überhaupt erst öffnen. Erst wenn sie sich über ein künstlerisches Tun als selbstwirksam erfahren haben, werden sie zugänglich für Mathe, Deutsch und andere Bildungsprozesse. Dafür gibt es aktuell noch zu wenig Verständnis. Man denkt: Erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Erst die Mathehausaufgaben, dann darfst du rausgehen, spielen oder malen. Ich glaube, es geht auch umgekehrt.“ Gerade deshalb sei es schade, dass viele Menschen von den kulturellen Angeboten, die Essen zu bieten hat, nicht erreicht würden. Al Ghusain bedauert dies: „Der Zugang scheitert ganz oft daran, dass Menschen das Gefühl haben, die besonderen Spielregeln dieser Orte nicht zu kennen. Die Kunst führt uns zum Wesen des menschlichen Daseins. Dafür brauchen wir nicht so viel Protz, so viel Fach-Jargon und so viele Verhaltensregeln, die Menschen eher ausschließen, als sie einzuladen.“ Um mehr Menschen für Kunst und Kultur zu begeistern, müsse man schon bei Kindern und Jugendlichen anfangen. Die Angebote in Kita und Schule seien allerdings oft weder quantitativ noch qualitativ ausreichend. Al Ghusain kritisiert vor allem, dass Kultur noch zu sehr als Lernstoff vermittelt werde: „im Sinne: man muss das üben oder lernen. Ich glaube, man muss sehr früh damit anfangen Kindern zu vermitteln, dass die Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur eine Freude und eine Bereicherung ist.“ Die Veränderung der kulturellen Bildung im schulischen Kontext erfordere aber auch auf anderer Ebene Neuerungen, sagt der Sozialdemokrat: „Meine Vision von einer sozialdemokratischen Kulturpolitik ist, dass sowohl der Mathematikunterricht als auch der Saxophonunterricht kostenlos angeboten werden. Beides muss Teil einer integralen Ausbildung sein. So können wir junge Menschen stärker mit Kunst und Kultur vertraut machen, wenn sie diese als festen Bestandteil des Großwerdens kennenlernen.“

„Auf dem Karussell fahren alle gleich schnell“

Orte, an denen Kultur schon seit hunderten Jahren Kultur niedrigschwellig gelebt und gefeiert wird, sind die unzähligen Volksfeste und Kirmessen. Und wer könnte diesen Zauber besser erklären als der Vorsitzende des nordrhein-westfälischen, des deutschen und des europäischen Schaustellerverbundes Albert Ritter? Am Rande der Essener Stadionkirmes sitzt er in seinem Biergarten. Es ist der erste Tag der Kirmes, noch ist es recht leer. Es sei zu warm, sagt Albert Ritter. Bei über 27 Grad kämen nur wenige Menschen auf die Kirmes. Er freut sich trotzdem auf die kommenden Tage: „Ich finde es toll, dass es hier keine Grenzen gibt. Auch nicht durch Sprachen. Du brauchst ja keine Fremdsprache zu können, um zusammen Autoscooter zu fahren. Das ist das Schöne, dass hier alle zusammenkommen, auch über gesellschaftliche Zwänge hinweg. Auf dem Karussell fahren alle gleich schnell. Hier treffen sich Menschen, die sich sonst nicht begegnen. Überall im Freizeit- und Kulturbereich gibt es Channel. In die Philharmonie geht, wer in die Philharmonie geht, zum Fußball gehen die Fußballfans und Zwölftonmusik hören sich ohnehin nur schräge Typen an. Hier hast du echt alle und jeden. Das ist erhaltens- und schützenswert.“ Dass er nicht der Einzige ist, der von der Bedeutung der Kirmes überzeugt ist, kann Ritter mit prominenten Beispielen belegen: „Wir verstehen uns als Schausteller als Kind der Gesellschaft. Eugen Roth hat mal gesagt ,Auf der Kirmes sitzt der Maurer neben dem Professor – je enger, desto besser.‘ Goethe lässt seinen Faustus sagen, als er die Kirmes hört: ,Hier bin ich Mensch, hier darf ich sein‘. Und Papst Franziskus hat über uns gesagt, unsere Arbeit sei Gottesdienst am Volke.“ Besonders deutlich wird ihm die Wirkung der Kirmes jedoch nicht durch große Worte, sagt Ritter, sondern „im Lachen der Kinder“.

Was bedeutet „Heimat“ im Kontext von Kultur?

Immer wieder fällt in den Gesprächen das Wort „Heimat“. Für Albert Ritter steht es im direkten Zusammenhang mit Kultur, Brauchtum und Traditionen. Und Volksfeste und Kirmessen seien nun einmal solche Traditionen. Der Schausteller erklärt deshalb zum Heimatbegriff: „Nur wer eine Heimat und eine Vergangenheit hat, kann in der Zukunft zu Hause sein. Du brauchst ein Familiengefühl und da erweitere ich Familie auf den Stadtteil oder bei uns hier das Ruhrgebiet und unsere Art zu leben und miteinander umzugehen aus der Tradition der Industriekultur heraus: Dass man direkt beim Du ist, dass man in der Kneipe zusammensitzt, dass man beim Bäcker, wenn man da wild fremd reinkommt, direkt angeschnauzt wird, aber keiner meint‘s böse. Das ist Heimat, das ist Brauchtum. Dieses Miteinander ist wichtig. Das fördert die Integration.“ Muchtar Al Ghusain sieht den Begriff „Heimat“ kritischer. In seinem Kunstprojekt „wunde heimat“ hat er Gedichte zum Thema vertont. Ihm geht es vor allem um die Komplexität des Begriffs, der häufig romantisiert oder popularisiert würde. Er erklärt dazu: „Ich denke, es ist verkürzt zu glauben, Heimat in Deutschland ist einfach nur: Berge, Seen, Dialekt und Volksmusik. Das glaube, dass alle ein intuitives Verständnis für Heimat haben, die definiert aber auch jeder für sich anders. Wir haben außerdem ganz viele Menschen in Deutschland, die Heimat verloren haben und noch keine neue gefunden haben oder gerade erst eine neue Heimat finden.“

Orte, an denen Menschen zusammenkommen

Ganz einig sind sich Albert Ritter und Muchtar Al Ghusain nicht. Wo der eine von Niedrigschwelligkeit spricht, sieht der andere Kommerzialisierung und Diskriminierung. So kritisiert Al Ghusain an der Kirmes beispielsweise den laschen Umgang mit Sexismus. Ritter setzt das hohe soziale Engagement der Schausteller für vulnerable Gruppen dagegen. Trotz der Gegensätze sind sich die beiden in einem zentralen Punkt einig: Essen braucht mehr Orte, an denen Menschen zusammenkommen können. Das sei auch der Grundgedanke der Folkwang-Bewegung gewesen, erklärt Al Ghusain mit Blick auf das berühmte Essener Museum: „,Folkwang‘ ist aus der nordischen Mythologie entnommen der Begriff für eine Halle des Volkes. Dort, wo das Volk zusammenkommen kann und sich gemeinsam bildet und entwickelt. Ich finde, das ist ein Gedanke, der sich gut mit sozialdemokratischen Ansätzen verbindet.“ In Hinblick auf die Kirmes ergänzt er: „Dort, wo Menschen zusammenkommen, findet im weitesten Sinne Kultur statt. Das kann beim Sport im Stadion sein oder auch auf der Kirmes.“