Hannelore Kraft im Interview mit dem Deutschlandfunk

Hannelore Kraft
Hannelore Kraft, Vorsitzende der NRWSPD

Die nordrhein-westfälische SPD-Chefin Hannelore Kraft hat ihre Partei aufgerufen, sich nicht zu lange mit der Aufarbeitung der Niederlage bei der Bundestagswahl aufzuhalten. Der designierte Bundesvorsitzende Sigmar Gabriel solle auf dem Parteitag in Dresden den Blick nach vorne richten.

Stefan Heinlein: 23 Prozent, das schlechteste Wahlergebnis der Nachkriegsgeschichte steckt der SPD noch immer tief in den Knochen. Nur langsam löst sich die Schockstarre der Genossen. Auf dem Parteitag in Dresden soll nun ein Neuanfang gemacht werden. Das schönste Amt neben Papst, der SPD-Parteivorsitz, wird neu vergeben.

Sigmar Gabriel soll es nun richten, gemeinsam mit Andrea Nahles als neuer Generalsekretärin. Fast auf den Tag genau 50 Jahre nach der Verabschiedung des Godesberger Programms sollen aber auch inhaltlich die Weichen neu gestellt werden.

Bei mir am Telefon die SPD-Landesvorsitzende in Nordrhein-Westfalen, Hannelore Kraft. Guten Morgen, Frau Kraft.

Hannelore Kraft: Guten Morgen, Herr Heinlein.

Heinlein: Was muss Sigmar Gabriel besser machen als sein Vorgänger Müntefering?

Kraft: Er muss den Blick jetzt nach vorne werfen. Es geht darum, dass wir jetzt wirklich offen miteinander diskutieren auf dem Parteitag. Dazu wird viel Raum sein. Es wird keinerlei zeitliche Beschränkung geben. Aber es geht in erster Linie darum, mit dem, was wir an Kritik rückwärtsgewandt miteinander austauschen werden, nach vorne zu diskutieren. Ich glaube, das ist ein entscheidender Punkt, wie das die neue Führung hinbekommt, in großer Geschlossenheit.

Heinlein: Wurde bisher in Ihrer Partei nicht offen diskutiert?

Kraft: Na ja, es ist in Regierungszeiten schon so, dass man natürlich in Koalitionen eingebunden ist und dadurch die Partei in ihren eigentlichen Positionen, ich sage immer in den Rot-pur-Positionen, nicht ganz so deutlich hervorkommt.

Heinlein: Also jetzt in der Opposition kann man wieder munter über und miteinander reden?

Kraft: Ich glaube, dass das schon erforderlich ist. Bei 23 Prozent weiß jeder, was die Stunde geschlagen hat, und zu behaupten, wir hätten da alles richtig gemacht, wäre sicherlich nicht sachgerecht.

Heinlein: Was haben sie denn falsch gemacht?

Kraft: Na ja, ich bin nicht dabei, wenn man auf der Überschriftenebene diskutiert, ob man jetzt "Rente 67", "Agenda 2010", "Hartz IV", alles das gleich in die Tonne schlägt. Das, glaube ich, ist der falsche Weg. Damit gewinnt man keine Glaubwürdigkeit zurück.

Bei der Rente 67 ist das Hauptproblem darin, dass wir die flexiblen Übergänge brauchen für die, die das nicht bis 67 schaffen in ihrem Beruf. Da ist der berühmte Dachdecker, da ist für mich aber genauso die Erzieherin, die nicht mehr mit 67 auf dem Bauteppich spielen kann. Aber diese flexiblen Übergänge standen beispielsweise schon im Wahlprogramm der SPD.

Heinlein: Ihr Fraktionschef Steinmeier hat sich heute Morgen in einem Zeitungsinterview von der Rente mit 67 distanziert. Wird das tatsächlich schon in Dresden gekippt werden, diese Regelung?

Kraft: In Dresden wollen wir einen Auftakt machen für einen Diskussionsprozess. Ich glaube, man kann das jetzt nicht innerhalb von ein paarstündigen Diskussionen sämtliche Themen komplett über Bord werfen. Das wäre auch nicht richtig. Wir haben in der Demografie Notwendigkeiten, im Rentenbereich zu reagieren. Jedem wird das klar, wenn er sich deutlich macht, wie die Lebenserwartung noch vor 20 Jahren war und wie hoch die Lebenserwartung heute ist. Wir müssen das faktische Rentenalter nach oben bekommen. Und darüber werden wir diskutieren, wie das auch in Bezug auf die Menschen geht, die eben bis 67 nicht mehr arbeiten können.

Heinlein: Sie werden diskutieren. Das hört sich so ein bisschen nach inhaltlichem Wischiwaschi an und nicht nach einem konkreten inhaltlichen Neuanfang.

Kraft: Nein, das ist ein Neuanfang und der wird mit dem Parteitag gestartet und es ist wichtig, dass man sich dafür auch die Zeit nimmt. Wir haben ja hier in Nordrhein-Westfalen unsere Erfahrungen damit. Wir sind 2005 nach 39 Jahren in die Opposition gegangen und wir haben genau einen solchen Prozess gestartet. Wir haben uns damals vier Themenfelder vorgenommen und wir sind jetzt gerade im letzten, um unsere Positionen dort zu schärfen, zu überprüfen. Wir haben uns beschäftigt mit Arbeit und Ausbildung, mit Bildung, mit der Kommunalpolitik, mit den wirtschaftlichen und ökologischen Perspektiven für NRW und sind jetzt beim sozialen Zusammenhalt, eigentlich der Seele der Partei.

Heinlein: Können Sie also mit Ihrer Erfahrung in der Opposition aus Nordrhein-Westfalen der Partei helfen, der Bundespartei helfen, diesen inhaltlichen und personellen Neuanfang zu starten?

Kraft: Das ist einer der Gründe, warum ich sage, ich kandidiere gerne jetzt als stellvertretende Vorsitzende. Diesen Erfahrungsschatz könnte ich ein Stück weit mit einbringen, auch übrigens was die Beteiligung der Basis angeht. Das ist ja auch in dem Bericht angesprochen worden.

Wir haben ja einiges anders gemacht nach 2005. Diesen inhaltlichen Erneuerungsprozess, den ich gerade geschildert habe, den haben wir sehr stark mit der Basis organisiert und wir haben auch über Zukunftskonvente natürlich uns von außen noch mal wichtige Impulse geholt, aus den gesellschaftlichen Gruppen, aus den Gewerkschaften. Auch das war ein richtiger Weg.

Heinlein: Wie weit muss denn Ihre Partei, die SPD, aus der Mitte nun wieder nach links rücken, damit sie wieder eine Volkspartei wird?

Kraft: Das ist für mich keine Links-rechts-Frage, sondern es geht darum – das ist der zweite Grund, warum ich gerne dort kandidiere -, wir stehen ja so vor der historischen Aufgabe, fast historisch würde ich sie nennen, dass wir beschreiben müssen, und zwar sehr konkret, wie stellen wir uns eine gerechte, eine soziale Gesellschaft vor unter den Bedingungen von Globalisierung.

Wir haben damit im Hamburger Grundsatzprogramm begonnen. Auch das war ein guter Prozess, den wir dort auch mit der Basis gemeinsam organisiert haben. Das ist eine wunderbare Basis und hier müssen wir jetzt in der Konkretisierung weiter vorankommen. Das ist die Aufgabe, vor der wir stehen.

Heinlein: Wollen Sie diese gerechte Gesellschaft konkret mit den Linken in einer Koalition schaffen?

Kraft: Nein! Wir haben uns ja klar festgelegt hier in Nordrhein-Westfalen und das ist ja jetzt auf der Bundesebene übernommen, in einem Mehrparteiensystem nicht auf Koalitionen zu schielen. Die SPD muss ihre Position beschreiben. Wir waren nicht mehr klar erkennbar. Das ist der entscheidende Punkt. Dann wird man bei den Wahlen sehen, nach den Wahlen, mit wem kann man diese Inhalte, die gute Inhalte sind dann hoffentlich, umsetzen, mit wem kann man vertrauensvoll zusammenarbeiten. Da gibt es keinen Automatismus. Ich war zum Teil wirklich erschrocken darüber, dass da in Thüringen Christoph Matschie in einer Weise auch unter Druck gesetzt worden ist, als wäre ein Automatismus sozusagen jetzt vorhanden, mit der Linkspartei zusammenzugehen. Das hängt von Inhalten und von Personen ab. Und ich sage für Nordrhein-Westfalen: Das, was wir hier im Land erkennen können als Programm der Linkspartei, lässt uns weiterhin den Satz sagen, wir suchen die Auseinandersetzung und nicht die Zusammenarbeit.

Heinlein: Also sehen Sie inhaltlich überhaupt keine Gemeinsamkeiten mit den Linken an Rhein und Ruhr?

Kraft: Ja, natürlich gibt es da Gemeinsamkeiten. Die haben ja unser Bildungsprogramm quasi abgeschrieben. Aber das kann es nicht alleine sein. Wer hier Eon und RWE verstaatlichen will oder diese Geschichte mit dem Recht auf Rausch oder auch der Angriff auf Religionen und Kirchen, das sind Positionen, die mit der SPD nicht zu machen sind. Und jetzt ist natürlich auch klar erkennbar, wer wirklich Veränderungen will, wer wirklich in der Bildungspolitik vorankommen will, der muss in Nordrhein-Westfalen SPD wählen.

Heinlein: Frage zum Schluss, ganz konkret: Welches Ergebnis braucht Sigmar Gabriel bei den Wahlen zum Parteivorsitz, damit er künftig fest im Sattel sitzt?

Kraft: Ich halte nichts davon, dass man jetzt da irgendwie eine Latte hochlegt. Das werde ich auch nicht tun. Ich glaube, dass er ein gutes Ergebnis bekommen wird. Diese Tour, die beide jetzt hier durch die Bundesländer gemacht haben, war sehr gut und sehr erfolgreich, und ich glaube, es wird ein ehrliches Ergebnis werden.

Heinlein: Das müsste aber schon mehr sein als die 77 Prozent bei seiner Nominierung?

Kraft: Also, ich lege da keine Prozentzahl fest. Ich glaube, das sollten wir auch nicht tun. Ich hoffe, dass es mehr wird, und gehe auch davon aus.

Heinlein: Wäre aber mutig! – Im Deutschlandfunk heute Morgen Hannelore Kraft, SPD-Landesvorsitzende in Nordrhein-Westfalen und künftige stellvertretende SPD-Bundesvorsitzende. Frau Kraft, ich danke für das Gespräch und auf Wiederhören.

Kraft: Danke Ihnen! Auf Wiederhören.